Die nicht Eineindeutigkeit der Sprache in der systemischen Therapie als hilfreicher Schatz
I Mein Interesse am Thema
Sprache ist ein wertvolles Kulturgut. Vielleicht ist das ein wichtiger Unterschied zu allem nicht-menschlichen Leben. Diese Fähigkeit zur Sprache bedeutet für mich auf der einen Seite eine Eröffnung unendlicher Möglichkeiten und auf der anderen Seite die Pflicht und Verantwortung, diese Fähigkeit zum Guten zu nutzen. Für die Therapie ist m.E. die Sprache ein wertvoller Schatz, der noch wertvoller wird durch die nicht Eineindeutigkeit der Sprache. So kann sich ein Tür öffnen in ein ganz neues Verstehen und zu mehr Möglichkeiten.
II Eineindeutigkeit
Eineindeutigkeit bedeutet nichts anderes, als dass zwei Werte (Sachen, Realitäten usw.) eindeutig und gegenseitig einander zugeordnet sind. Hier geht es mir um Sprache und ihre Eineindeutigkeit.
Sage ich „Baum“, kann sich jemand eine Tanne, eine Erle oder einen Bonsai vorstellen. Das heißt, das Wort „Baum“ ist nicht nur nicht eineindeutig sondern auch nicht eindeutig. Das Wort „Erle“ ist eindeutig, sofern es die Art nicht aber den konkreten einzelnen Baum bezeichnet. „Opas Erle“ ist eindeutig, da es die Erle bezeichnet, die Opa gepflanzt hat. Es ist dieser eine Baum. „Opas Erle“ ist auch eineindeutig, da das Wort wie ein Name genau diesen einen Baum bezeichnet und nur diesem Baum kommt diese Bezeichnung zu „Opas Erle“ eben wie bei einem Namen.
Ein anderes Beispiel sind die Farben. „Blau“ bezeichnet eine Farbe. Das Wort ist nicht eindeutig, da das Spektrum der Farbe „Blau“ weit ist. Ein Farbcode wie #022C63 bezeichnet ein bestimmt es „Blau“ und ist damit eindeutig. Doch eineindeutig wäre dieser Code erst, wenn er tatsächliche alle Farben eindeutig bezeichnen würde.
Aber wie ist es nun mit einem Wort wie „Liebe“ (oder „Glück“, „Schönheit“, „gut“ usw.)? Können Worte die Werte, Gefühle, Einstellungen usw. bezeichnen überhaut eindeutig oder eineindeutig sein?
Die Schwierigkeit entsteht, wenn ich davon ausgehe, dass ich „Liebe“ sage, bzw. ich das sage, was meiner Meinung nach Liebe ist und dass andere genau das verstehen, so wie ich Liebe verstehe. Wenn „Liebe“ die Summe dessen ist, was ich darüber denke, sage, fühle, erinnere usw., müsste der andere bei dem Wort „Liebe“ genau dieses mein Denken, Sagen, Fühle, Erinnern usw. eindeutig so verstehen. Und das alles unter der Voraussetzung, dass ich das Wort „Liebe“ für mich eindeutig definieren könnte. Das ist ausgeschlossen. Nur dann wäre das Wort „Liebe“ eineindeutig.
III Der große Trugschluss
Ich gehe im Sprechen in der Regel von der Verstehbarkeit und Eindeutigkeit meiner Sprache aus, was ich auch tun muss, sonst kann ich nicht kommunizieren, bzw. die Kommunikation wäre absurd. (Anders ist das in den Wissenschaften. Dort versucht man Worte (Begriffe) zu definieren, so dass sie eben doch eineindeutig sind. So hat das (definierte) Wort für alle die eine Bedeutung.)
Diese Unschärfe in der Sprache ist im Alltag meist nicht problematisch, da sie sich bisweilen in der Kommunikation auflöst oder schärft hin zu mehr Klarheit. („gibst Du mir bitte das Messer.“ „Welches?“ „Das mit dem Holzgriff.“)
Anders ist es, wenn das Nichtverstehen zum Problem wird oder zur Belastung der Beziehung. Paar in Therapie sind oft an diesem Punkt, dass die Worte nicht (mehr) verstanden werden oder dass, das was ausgedrückt werden soll im Sinne von Schulz von Thun, nicht (mehr) verstanden wird. Sprache ist eine Kulturleistung, die uns vielleicht selbstverständlich, es aber nicht ist. Unser Sprechen ist differenziert, geht über Laute und Bilder hinaus, kann Abstraktes kommunizieren.
IV Sprache und ihre nicht Eineindeutigkeit als Schatz in der Therapie
Eine eineindeutige Sprache oder ein eineindeutiges Wort würde nur eine Möglichkeit des Verstehens zulassen. Viele Möglichkeiten bedeuten aber (nicht nur in der Paartherapie), neue oder andere Lösungen und Veränderungen zu ermöglichen. Ein Ziel der systemischen Therapie ist nun eindeutig, mehr Möglichkeiten zu entdecken, zu finden, und so zu (neuen) Lösungen zu kommen.
V Systemische Tools
1 Wortwolke (am Beispiel „Liebe“): Was bedeutet das Wort „Liebe“?
a Die Klientin bzw. der Klient (K) schreibt auf Karten Worte, Begriffe, Sätze, die (aus seiner Sicht) zu „Liebe“ gehören. Oder die Therapeutin oder der Therapeut (T) schreibt sich für sie bzw. ihn auf.
b Die Karten werden der Karte mit dem Wort „Liebe“ zugeordnet. Nah – fern, Wortgruppen, oben – unten – rechts – links usw.
c Arbeit mit den Karten:
aa K stellt sich auf die Karte mit dem Wort „Liebe“ und teilt ihre/seine Gefühle und Wahrnehmungen mit.
bb K stellt sich auf die einzelnen Karten und teilt ihre/seine Gefühle und Wahrnehmungen mit.
cc K stellt sich außerhalb der Karten (Außensicht) und teilt mit, was sie/er sieht.
dd Möchte K etwas verändern? Was verändert die Veränderung?
2 Verwissenschaftlichung des Wortes „Liebe“
Eine Definition für das Wort „Liebe“ schreiben aus der Sicht …
a des K.
b der Partnerin bzw. des Partners von K.
c einer außenstehenden Person.
d Was ist daran für K hilfreich?
3 Biographischer Kontext – zirkuläres Fragen
K erzählt die Liebesgeschichten seiner Familie aus unterschiedlichen Sichtweisen. (Und wie würde die/der andere Beteiligte diese Liebesgeschichte erzählen?)
4 Arbeit mit dem Schaubild „Der große Trugschluss“
a Was geschieht konkret (bei K) von dem was ist (wirkliche Wirklichkeit) bis zum Wort „Liebe“?
b Wo sind die Fallstricke, die allgemein oder konkret (auf K hin) zu Störungen in der Kommunikation führen?
c Wie würde jemand anderes (als K) das Schaubild deuten?