"Ich gehe nachts nie über eine Brücke."
Casmus (1968, 15)
Theologie oder Konstruktivismus
Offenbarung oder Konstrukt
Seelsorge oder Systemische Therapie
Ich gehe nachts nie über eine Brücke
In Gefahr und großer Not …
… bringt der Mittelweg den Tod. Kenne ich den richtigen Weg? Ist meine Beschreibung meines Lebens zutreffend? Was ist richtig? Was ist falsch? Auch wenn es viele mögliche Wege gibt, auch wenn es unterschiedliche Sichtweisen gibt, auch wenn es ganz anders sein könnte, in der konkreten Situation bin ich möglicherweise doch gefordert, mich für einen Weg, eine Deutung, eine Beschreibung, eine Wahrheit zu entscheiden. Und zwar werde ich mich so entscheiden müssen, als wenn meine Sichtweise die einzig richtige wäre, auch wenn ich weiß, dass andere Sichtweisen möglich sind und vielleicht sogar ebenso zutreffend. Ausschlaggebend erscheint mir der Aspekt, dass ich mich im Leben entscheiden muss, wenn ich aktiv-handelnd sein will und nicht passiv-erduldend. In der Überlegung oder im Diskurs sind viele Sichtweisen oder Wege möglich und ohne Not oder Schaden kann ich von einer Idee zur anderen wechseln. In Entscheidungssituationen ist dies nicht möglich. Ich kann die gemachte Entscheidung, wenn sie umgesetzt ist oder wenn ich mit der Umsetzung begonnen habe, nicht ungeschehen machen. Mein Handeln, und damit ist auch kommunikatives Handeln gemeint, verändert die Situation auch beim und für den anderen, der sich darauf einstellt und sich verändert. Mein Handeln bleibt nicht ohne Folgen oder Konsequenzen. Ich kann mich bestenfalls neu entscheiden, eine andere Haltung einnehmen und kommunizieren oder einen anderen Weg wählen. Wenn ich aktiv an meinem Leben teilhaben will, muss ich aus den Möglichkeiten wählen und mich entscheiden, wie ich mein Leben gestalte. Mit anderen Worten: Ich kann nur so leben, als wenn mein Konstrukt von Wirklichkeit richtig wäre, selbst wenn ich weiß und bejahe, dass andere Konstrukte ihre Berechtigung haben. Das Fragen nach Wahrheit ist somit keine schöngeistige Angelegenheit, sondern gibt meinem Versuch zu leben Ernsthaftigkeit und Tiefe.
Im Anfang war die Praxis
Mein Fragen erwächst aus meiner beruflichen Praxis. Ich bin beides Seelsorger und systemischer Therapeut. Da ich hoffentlich nicht gespalten bin und einmal Seelsorger und ein andermal Therapeut, ist die Antwort bereits entschieden, dass Seelsorge und Therapie bzw. Theologie und Konstruktivismus unter einen Hut passen. Das was ich ausübe ist Seelsorge und systemische Therapie. Oder wie bei Morgenthaler (2005) beschrieben: Systemische Seelsorge. Die Antwort ist schnell gegeben, die Folgen für eine theoretische Vergewisserung, ob dort vielleicht unvereinbare Denkweisen aufeinandertreffen, sind möglicherweise weitreichend. Ich bin Pastoralreferent im Erzbistum Köln und daher geht es für mich um den Glauben, Theologie, Religiosität in der katholischen Kirche. Es könnte aber zugleich eine exemplarische Sichtweise auch für andere sein, die sich die Frage nach dem Zusammengehen von Systemischer Therapie und Glaube bzw. Religion stellen. Jeder Absatz ist ein Mosaikstein. Für mich ergeben die Steinchen ein fragmentarisches Bild meiner Praxis. Das Bild könnte auch anders aussehen. Vor allem könnte sich für jeden anderen auch jedes andere Bild zeigen. Was nicht heißt, dass es beliebig wäre. Vielleicht ist das Bild hilfreich für die jeweils eigene Praxis oder vielleicht ist auch nur ein einzelnes Steinchen hilfreich. Vielleicht ist schon alleine die Frage nach einem theoretischen Überbau der eignen Praxis hilfreich. Vielleicht ist es auch nur einfach nett, diesen Artikel zu lesen, in dem es um Sichtweisen geht und nicht um religiöse oder therapeutische Dogmen.
Zwei bis vier Sichtweisen
Im neuen Testament sind uns vier Evangelien überliefert. Markus, Matthäus und Lukas sind die synoptischen (= zusammengesehenen) Evangelien und Johannes. Geht man was die synoptischen Evangelien betrifft von einer zwei Quellentheorie (z.B. Merklein, 1994) aus, so haben Matthäus und Lukas aus Markus (erste Quelle) und einer Logienquelle (zweite Quelle) bestehend aus Sprüchen Jesu geschöpft. Johannes geht erkennbar eigene Wege. Warum benutzt das Christentum, das sich eindeutig auf eine Person nämlich auf Jesus beruft, nicht eine, sondern vier Basisquellen? Warum werden vier unterschiedliche Sichtweisen überliefert, dazu noch die weiteren Schriften des neuen Testamentes? Es könnte sein, dass die frühen Christen bereits den Wert der Einheit in Unterschiedlichkeit erkannt haben. Der Glaube wurde weitergegeben durch das lebendige Zeugnis und Bekenntnis des Einzelnen und der einzelnen Gemeinden. Vielleicht hatten die frühen Christen ein Gespür dafür, dass unterschiedliche Sichtweisen für Bildung und Zusammenhalt einer Gemeinschaft zuträglicher sind. Dass eine Verbindlichkeit in der Auswahl der Quellen von Nöten war ergab sich daraus, dass die Augenzeugen starben, die Wiederkunft Jesu sich nicht zu Lebzeit der ersten Gemeinde ereignete und die Gemeinde wuchs und sich über weite Gebiete verteilte, so dass nun nicht mehr nur mündlich sondern auch schriftlich überliefert wurde. Aus vielen Sichtweisen wurden die ausgewählt, die verbindlich für das junge Christentum wurden, weil sie als zutreffend und authentisch galten. Ein Spagat zwischen Vielfalt und Einheit. Offensichtlich war er tragfähig über fast zwei Jahrtausende.
Noch mehr bis unzählige Sichtweisen
Das Alte Testament lässt kommentiert oder unkommentiert Texte verschiedener Urheber, Schulen, Bewegungen nebeneinander oder ineinander verwoben bestehen, was historisch-kritische Untersuchungen detailliert erarbeitet haben. Hier sind Sichtweisen übernommen und integriert worden in neue Texte oder einfach überliefert und ergänzt oder verändert worden. Und die Bibel scheut sich nicht so zu beginnen. Auf den ersten Schöpfungsbericht (Gen 1,1 – 2,4a), der mit der Erschaffung des Menschen endet, folgt der zweite Schöpfungsbericht (Gen 2,4b – 25), der mit der Erschaffung des Menschen beginnt. Wobei der zweite älter ist als der erste. Die ältere Erklärung für die Erschaffung der Welt wurde beibehalten, aber eine neue Sichtweise wurde vorangesetzt. Der gläubige Leser (Hörer) wird nicht auf eine Sichtweise festgelegt, sondern beide werden ihm angeboten. So eröffnet der erste Schöpfungsbericht zum Beispiel in einer Zeit der Verbannung ohne geordnete kultische Praxis die Wertschätzung des siebten Tages als bestimmendes Merkmal der Gemeinschaft und garantiert so den Zusammenhalt in einer schwierigen Zeit. Überlieferte Sichtweisen wurden nicht verworfen, sondern neu gedeutet, ergänzt oder neu erzählt und so überliefert. Was nicht überliefert wurde ist somit auch weitestgehend unbekannt. Eine Sichtweise verwerfen und nicht weitergeben könnte man auch als einen kreativen Akt sehen.
Wahrheit oder Lüge
„Micha aber fuhr fort: Darum – höre das Wort des Herrn: Ich sah den Herrn auf seinem Thron sitzen; das ganze Heer des Himmels stand zu seiner Rechten und seiner Linken. Und der Herr fragte: Wer will Ahab betören, sodass er nach Ramot-Gilead hinaufzieht und dort fällt? Da hatte der eine diesen, der andere jenen Vorschlag. Zuletzt trat der Geist vor, stellte sich vor den Herrn und sagte: Ich werde ihn betören. Der Herr fragte ihn: Auf welche Weise? Er gab zur Antwort: Ich werde mich aufmachen und zu einem Lügengeist im Mund all seiner Propheten werden. Da sagte der Herr: Du wirst ihn betören; du vermagst es. Geh und tu es! So hat der Herr jetzt einen Geist der Lüge in den Mund all deiner Propheten gelegt; denn er hat über dich Unheil beschlossen.“ (1 Könige 22,19-23) Unterschiedliche Schichtweisen werden nicht immer als hilfreich erachtet. Es geht um einen Rat bzw. eine Vorhersage eines Schlachterfolges durch die Propheten am königlichen Hof und den Propheten Micha. Die Hofpropheten bzw. prophetischen Beamten sagen einen Schlachterfolg voraus wie vom König erhofft. Micha sagt einen schlimmen Ausgang voraus. Das Ganze ist ein wenig verkürzt, aber es geht mir um die Frage, wie unterschiedliche oder gar widersprüchliche Sichtweisen zu einer einheitlichen Handlungsoption führen können. Und noch klarer, wie kann der eine Gott sich widersprüchlich durch seine Propheten äußern. Voraussetzung ist die Annahme, dass Wahrheit von Gott geschenkt wird durch den Mund der Propheten. Die Erfahrung ist, dass auch die von erfahrenen Propheten verkündete Wahrheit im Ergebnis sich als falsch erweist. Eine Lösung wird von Micha, das heißt von dem der hinter dieser Gestalt steht, aufgezeigt. Er sieht Gott auf seinem Thron. Die Hofpropheten haben eine zutreffende, das heißt der Wahrheit entsprechende, Sichtweise. Nur das schlimme, nicht gewünschte, Ergebnis ist von Gott beabsichtigt. Diese Geschichte zeigt eine Lösung auf für die Problematik, dass es auf der einen Seite sogar unter Propheten unterschiedliche Sichtweisen gibt und auf der anderen Seite grundsätzlich der Weg zur Wahrheit durch die Prophetie erhalten bleibt. Und eine weitere Lösung ergibt sich daraus: Unterschiedliche Sichtweisen entlasten einen nicht von der Entscheidung, die der Handelnde immer selber verantwortet. Selbst wenn angenommen wird, dass alle Wahrheit von Gott ausgeht, bleibt die Verantwortung beim Handelnden. Es könnte eine objektive Wahrheit geben, es gibt aber ausschließlich eine subjektive und damit vielfältige Möglichkeit der Kenntnis. Wenn der Text selber in die Zeit des Königs Ahab (nicht zufällig trägt auch der Kapitän in Melvilles „Moby Dick“ (Melville 1964) diesen Namen) fällt, haben die Menschen sich vor rund 2800 Jahren und immer wieder Fragen gestellt, die aus systemischer Sicht und im Zusammenhang dieses Artikels nützlich sind. Unterschiedliche Sichtweisen haben ihr Recht, aber auch der eine Gott (die eine Wahrheit). So die Lösung.
Ewige Wahrheit
„Philosophie will ewige Wahrheit ergreifen. Ist diese Wahrheit nicht jederzeit die gleiche, die eine und ganze? Vielleicht – aber wir bekommen sie nicht eindeutig in allgemeingültiger Gestalt in unseren Besitz. Das Sein öffnet sich uns nur in der Zeit, das Wahre in zeitlicher Erscheinung.“ (Jaspers 1963, 117) Unabhängig davon, ob heutige Philosophie Jaspers in seiner Aussage über die Philosophie folgt und unabhängig von der Frage nach dem Sein, erscheint mir an dieser Stelle Jaspers‘ Zugang zur Wahrheit hilfreich. Er sieht die Spannung zwischen „ewiger Wahrheit“ und unserer Möglichkeit, diese zu ergreifen. Wenn nun aber diese Wahrheit für mein Leben und meine Lebenspraxis bedeutsam oder gar grundlegend sein soll, wie komme ich dann zu einer Praxis die auf dieser Wahrheit fußt oder sie zumindest mit im Blick hat und für bedeutsam hält? Die Lösung ist möglich im philosophischen Glauben. Zwei „philosophische Grundentscheidungen“ „wie ich Wirklichkeit ergreife“ sind zu treffen. Die erste ist das eine „Vollendung der Welt in sich als möglich gedacht wird“ bzw. das „Transzendenz das Leben führt.“ Die zweite ist die Entscheidung, dass Transzendenz von mir fordert, mich in der Welt zu verwirklichen und nicht die Welt zu verneinen. (Jaspers 1974, 69 – 71) „Der philosophische Glaube ist die Substanz eines persönlichen Lebens;“ (Jaspers 1974, 79) so Jaspers. Grund und Vollendung sind eine Bewegung und ein Weg, der charakterisiert ist als „Vernunft, Liebe, Chiffer“. (Jasper 1958, 961) Man könnte sagen, für den philosophisch Glaubenden zeigt sich die Transzendenz oder die Objektivität in Chiffern. Das Sein wird in der Subjekt-Objekt-Spaltung „ergriffen“. (Jaspers 1958, 1022) Es handelt sich eher um einen Akt des Ergreifens für Jaspers als um ein denken oder verstehen. Was hier geschieht, übersteigt das Denken. In diesem Akt werden Subjekt und Objekt zugleich erfasst. (Jaspers 1958, 1022f) Soweit Jaspers. Ich habe den Eindruck, dass wir Menschen eine Sehnsucht nach einer ewigen Wahrheit haben. Es muss doch etwas geben, was verbindlich ist für alle. Es muss doch etwas geben, das mir unbedingten Halt gibt. Selbst wenn ich diese Wahrheit verneine oder zumindest für nicht erkennbar halte, bleibt diese Sehnsucht nach etwas festem, beständigen, unhinterfragbaren. Es muss doch eine letzte Instanz geben. Ob ich es Wahrheit, Gott, das Leben oder wie auch immer nenne. Die Sehnsucht bleibt. Vielleicht lebe auch ich, wenn ich diese Wahrheit verneine, so als wenn es sie gäbe, so als wenn mein Lebenskonzept richtig in diesem absoluten Sinne wäre. Vielleicht kann ich auch nicht anders. Bei Jaspers nehme ich dieses Suchen und Glauben wahr.
Ideen fallen nicht vom Himmel
„Jede Theologie ist induktiv, indem sie immer eine gewisse gesellschaftliche Praxis widerspiegelt. Im Gegensatz zu dem, was sie behauptet, fallen die Ideen, die sie vertritt, nicht vom Himmel, sondern kommen aus einer parteiischen, partiellen Lektüre der biblischen und traditionellen Texte, geleitet von Interessen, denen sie praktisch dient.“ (Casalis 1980, 186) Es gibt nach Casalis keine deduktive Theologie. Sie ist nie neutral. Die „herrschende Theologie“, die von sich behauptet „deduktiv, universell und immerwährend zu sein“ ist ein „induktive Theologie der Herrschaft.“ (Casalis 1980, 47) Damit fällt auch der Widerspruch zwischen einer deduktiven Theologie oder Dogmatik und einem nicht-deduktiven Konstruktivismus. Jede Theologie ist verwurzelt in der jeweiligen Praxis. Casalis spricht hier von einer „klassenbedingten Praxis“. (Casalis 1980, 53) Für ihn gibt es in einer „zweiten Instanz“ ein „‘deduktives‘ Moment“. Erwächst aus der Praxis eine induktive Theologie so sind die Ergebnisse für die nachfolgenden Generationen quasi „deduktiv“. Sie bekommen eine „erklärende, wegweisende und inspirierende Rolle“. (Casalis 1980, 60) Mit anderen Worten: Die biblischen Texte sind Produkte einer klassenbedingten Praxis und werden für uns zum Wegweiser. Das heißt aber nicht, dass sie für uns zu unumstößlichen Wahrheiten werden. Wir bleiben gebunden an unsere Praxis und werden nicht befreit von der Verpflichtung, die biblischen Texte auf der Basis unserer Praxis zu lesen. „Jede Theologie ist induktiv“ (Casalis 1980, 186) und ich möchte etwas zu gespitzt sagen, dass jede Theologie und auch jede Theorie oder Lehre nur induktiv sein kann. Wenn Karl Rahner, ohne das hier zu vertiefen, vom Person- und Subjektsein des Menschen spricht, führt das genau in diese Richtung. (Rahner 1989, 37) Auch ein Heils- und Offenbarungshandel Gottes hebt das nicht auf, weil es sich immer „auf den Menschen als Freiheitsubjekt richtet.“ (Rahner 1989, 143, vergl. auch Rahner 1971, 62)
Herr Luhmann, können Sie bitte mal mit anfassen
„Lieber Herr Luhmann, als Vertreter des Konstruktivismus sind Sie an dieser Stelle ein unverdächtiger Zeuge zur Rettung des Religiösen. Posthum ist Ihr Werk „Die Religion der Gesellschaft“ veröffentlicht worden. Können Sie an dieser Stelle bitte mal mit anfassen.“ So würde ich fragen, in der Hoffnung auf eine hilfreiche und stützende Antwort. Ich bin kein Soziologe und auch kein Religionsphilosoph, aber vielleicht finde ich etwas Nützliches für meine Fragestellung, ob Seelsorge und Systemische Therapie mit ihren theoretischen Grundlagen zusammenpassen. Einschränkend muss ich vorab festhalten, dass es mir um Christentum und nicht wie Luhmann um Religion geht. Luhmann wechselt nicht die Brille. Er bleibt seinen Grundannahmen treu. Er setzt auch hier bei Kommunikationen und nicht bei Menschen zur Beschreibung eines Systems an. (Luhmann 2002, 13) Eine Kommunikation ist immer dann religiös, „wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet.“ (Luhmann 2002, 77) Religion fragt auf eine spezifische Weise nach Sinn. Das ist somit ihre Aufgabe in Gesellschaft. Es ist nicht nur die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz. Es geht auch um die Unterscheidung von profan und sakral, dem Geheimnisvollen, dem Mysterium. (Luhmann 2002, 89) „Die Welt enthält dann etwas, was nicht in diesem engeren Sinne real ist, aber gleichwohl als Position eines Beobachters dienen und seinerseits beobachtet werden kann.“ (Luhmann 2002, 59) Auch wenn Luhmann Gott als Soziologe von außerhalb einer Glaubensgemeinschaft betrachtet und von einer Kontingenzformel Gottes spricht, so wird letztlich das Reden von Gott, ohne Gott beweisen zu wollen, gerettet. (Luhmann 202, 147 ff) Und nicht nur das. Für Luhmann ist Religion nicht am Ende. Für ihn ist Religion ein soziales System wie andere. Vielleicht ergibt sich für mich an anderer Stelle, die Gelegenheit Luhmanns Religion der Gesellschaft theologisch zu würdigen. Hier geht es darum, ob die seelsorgliche und therapeutische Praxis unter möglicherweise unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Standpunkten vereinbar ist. Mir stellt sich hier auch die Frage, ob es unterschiedliche Standpunkte oder eher Sichtweisen sind.
Frage an Radio Eriwan
Gibt es eine Metaebene? Antwort: Im Prinzip ja, nur du kannst sie nicht einnehmen! Zusatzfrage an Radio Eriwan: Kann denn überhaupt jemand die Metaebene einnehmen? Antwort: Im Prinzip ja! Noch eine Zusatzfrage: Und wer? Antwort: Radio Eriwan! Danke für Ihre Fragen! – Jede Beobachterebene ist eine Metaebene. Ob ich mich beobachte, ob eine Beobachter einen Beobachter beim Beobachten beobachtet (Beobachter zweiter Ordnung) oder ob die Beobachtung im Ergebnis zu einer Theoriebildung führt, macht für mich keinen grundlegenden Unterschied insofern, dass spätestens dann, wenn eine irgendwie geartete Kommunikation zwischen Beobachter und Beobachtetem stattfindet, beide Teil eines Systems werden. Das heißt auch, dass es letztlich keine Metaebene gibt, es sei denn, sie wird postuliert, ohne erreicht werden zu können oder sie hat für das Leben keine Bedeutung. Die Gedanken, die ich mir über jemanden mache, sind für ihn bedeutungslos, wenn ich sie nicht und auch nicht nonverbal kommuniziere. Metaebene in der therapeutischen Praxis: Für die seelsorgliche wie therapeutische Praxis bedeutet das, dass ich nie außen stehe. Ich werde im Moment des Kommunizierens zum Teil des Systems Klient(en)/Therapeut(en) entsprechend für die Seelsorge. Zum Beispiel Reflecting Team (RT): Das RT nimmt eine ausdrücklich beobachtende Rolle ein. Selbst durch die Installierung in der therapeutischen Situation findet schon eine Veränderung statt. Das RT wird zum Teil des Systems – selbst wenn es hinter einer Scheibe säße und die Teilnehmer der Therapiesitzung drum wüssten. Ganz ausdrücklich wird das RT zum Teil des Systems, wenn es seine Beobachtung anbietet. Würde man ein RT 2 einführen, würde sich grundsätzlich an der Zugehörigkeit zum System nichts ändern. Es sei denn, niemand wusste darum bzw. würde es auch nur erahnen. Aber was sollte das? Ein kurzer Exkurs zur Neutralität bzw. Allparteilichkeit: Das Bemühen um den Standpunkt der Allparteilichkeit erscheint mir im therapeutischen Kontext für den Therapeuten von grundlegender Wichtigkeit für seine (exemplarische) Haltung, aber es gibt sie nicht. Da ich nie außerhalb eines Systems stehen kann, wenn ich mit ihm kommuniziere, kann ich auch nicht neutral oder allparteilich sein. In der Reflexion meiner selbst auf den Begriff der Allparteilichkeit kann ich mich ihm nähern bzw. mein Scheitern erkennen. Metaebene im Verhältnis Praxis und Theorie (theoretischer Überbau): Für das Verhältnis von Praxis und Theorie bedeutet das auch, dass ich nie außen stehe. Der Begriff Theorie in all seinen Nuancen erweckt den Eindruck, als ob ein Beobachter von außen eine Praxis, ein System, die Gesellschaft, die Welt beobachtet und so auf eine spezifische Weise zu einer Theorie dieser kommt. Dieser Beobachter ist aber entweder bereits Teil des Beobachteten oder wird zum Teil, indem er seine Theorie gegenüber dem Beobachteten kommuniziert. Eine Theorie will in der Regel wirken. Sonst hat halt jeder seine Meinung. Das heißt nicht, dass es keinen Beobachterstatus gäbe. In der Theoriebildung wird ein Standpunkt außerhalb (Metaebene) eingenommen, als wenn dies möglich wäre. In der Bejahung des Teilseins wird die Theorie an Praxis, System, Gesellschaft, Welt erprobt und verändert. Ich vermute, dass dieser dialektische Prozess nie endet. Theorien, ob soziologischer, religiöser oder sonstiger Art, die mit Absolutheitsanspruch auftreten, erscheinen mir verdächtig. Sie erweisen für mich ihren Irrtum nicht selten in ihrer Unmenschlichkeit. (Folgt man Kurt Gödel ist es überhaupt fraglich, ob Theorien durch sich selber beweisbar sind. Peukert 1978, 99ff) Das heißt nicht, dass ich nicht, um Handlungsfähig zu bleiben, von der Richtigkeit meiner Theorie (auch Weltanschauung usw.) in meiner Lebenspraxis ausgehen muss. Grenzen sind für mich z. B. Respekt, Humanität, Toleranz, Wohlfahrt für alle. Metaebene in Bezug auf Immanenz und Transzendenz: Transzendenz könnte, als das Ganzandere, die Metaebene zur Immanenz sein. Wenn ich so Transzendenz verstehe, habe ich keinen Zugang zu ihr. Selbst göttliche Offenbarung würde, sobald sie geschehen, immanent. In Jesus ist dies geschehen. Gott ist Teil der Immanenz geworden. Menschwerdung Gottes bedeutet auch, dass diese Spaltung in Immanenz und Transzendenz aufgehoben ist. Und doch bleibt ein Reden in dieser Spaltung sinnvoll. Sinnstiftend ist, Welt wie von außen zu beobachten. Sinnstiftend ist auch, die Perspektive eines beobachtenden Gottes einzunehmen, der seine Beobachtung mitteilt. (vgl. Luhmann 2002) Ich glaube, es ist sinnvoller von Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz zu reden als von Spaltung. Im Leben bin ich gefordert, diese Spannung auszuhalten. Ich nehme die Beobachterposition ein und weiß, dass ich nicht außerhalb stehen kann und handle so, als wenn meine Erkenntnisse zwingend wären, wissend, dass sie nicht zwingend sind. Es ist eine mehrfache Spannung. (Doppelte Kontingenz führt nicht zur Erstarrung sondern zur Dynamik. Vgl. Luhmann 1987) Diese Spannung erscheint mir angemessen. Zugleich ist sie eine Herausforderung, Kontingenz auch im Religiösen als positiv zu Bejahen. Wenn sie zur Überforderung wird, kann es sein, dass sie für die Person zur Entscheidung für einen einzigrichtigen Glauben führt. Ein Gott, von dem wir behaupten, dass er sich offenbart, begibt sich in die Gefahren und Bedingungen der Immanenz. Das ist aber die einzige Möglichkeit von Nähe und Kommunikation.
„Ich gehe nachts nie über eine Brücke.“
Ein Gelübde. Stellen Sie sich doch einmal vor, es stürze sich einer ins Wasser. Dann stehen Ihnen zwei Möglichkeiten offen: entweder Sie springen nach, um ihn herauszufischen, was in der kalten Jahreszeit die denkbar schlimmsten Folgen für Sie haben kann! Oder aber Sie überlassen ihn seinem Schicksal, doch nach unterbliebenen Kopfsprüngen fühlt man sich manchmal seltsam zerschlagen.“ (Camus1968, 15) Es geht nicht. Ich kann nicht lebend am Leben nicht teilhaben. Um Handeln, damit meine ich auch kommunikatives Handeln, möglich zu machen, bin ich gefordert, mich zu verhalten, zu entscheiden, Position zu beziehen, zwischen mindestens zweien zu entscheiden. Und wenn ich mich nicht verhalte, entscheide usw. habe ich es durch Unterlassen getan. Ich kann nicht am Leben nicht teilhaben. Das gilt nicht nur in Bezug auf andere, sondern auch in Bezug auf mich und Welt überhaupt. Die Dynamik des Lebens liegt für mich im Leben selber. Mit anderen Worten: Dynamik des Lebens ist Autopoiesis. Im guten Sinne kann ich dem Leben nicht aus dem Weg gehen. Oder positiv ausgedrückt: Ich kann dem Leben trauen. Leben ist immer auch scheiternde Existenz. Das meint nicht nur Scheitern der ganzen Existenz, sondern auch die Möglichkeit des Scheiterns und Fehlens in jeder einzelnen Situation. Das Christentum ist eine Erlösungsreligion, nicht in dem Sinne, dass es eine Zeit, einen Ort, einen Himmel gibt, wo die Möglichkeit des Scheiterns überwunden ist oder die Kommunikationen nicht mehr kontingent sind. Erlösung meint, dass dieses Leben mit seiner Unsicherheit, Beschränktheit, Unvollkommenheit so von Gott gewollt ist. Das meint Menschwerdung Gottes. Dieses Leben in seiner Immanenz ist von Gott gewollt. So sehr gewollt, dass er sich selber diesem Sein unterwirft. Darum musste Jesus in allem uns Menschen gleich sein. (Hebr 2,17) Erlösung findet statt in der Barmherzigkeit. Die Bedingtheit, Fehlerhaftigkeit, Möglichkeit zum Scheitern des Lebens dürfen sein. Barmherzigkeit Gottes mir und allen Menschen gegenüber eröffnet die Barmherzigkeit, die ich mir selber gegenüber einnehmen kann. Erlösung liegt als Sehnsucht in der Zukunft und als Möglichkeit im Jetzt. Eine Erfahrung, die menschlicher Existenz immer schon geschenkt ist, die sich aber durch die Menschwerdung Gottes, wie sie im Christentum bekannt wird, geschichtlich immanent manifestiert.
Diener zweier Herren oder Eine Melange aus Vater und Mutter
An erster Stelle steht für mich der Mensch mit den Systemen, denen er angehört, und was für ihn hilfreich ist. Mein seelsorgliches und therapeutisches Arbeiten ist, wenn es gelingt, lösungsorientiert und heilend. Seelsorge ist und war immer heilend, therapeutisch. (Vgl. Lk 5,31) Vielleicht liegt der Unterschied zwischen Seelsorge und Systemischer Therapie darin, dass Gott (Transzendenz) immer mit gedacht ist oder ins Wort gebracht wird und dass der Klient als Teil eines Ganzen gesehen wird. Jede Seelsorge ist immer ganzheitlich. Das macht das Religiöse aus: Der einzelne wird weder in Individualität noch in Kollektivität aufgelöst. Nun muss ich zugeben, dass mein therapeutisches Arbeiten sich da nur schwer unterscheiden lässt. Vielleicht ist der Unterschied am ehesten zu benennen, wenn ich sage, dass ich auf zwei Entwicklungen, unterschiedlich geschichtlich Gewordenes in meinem Arbeiten Bezug nehme. Auf der einen Seite steht die katholische (christliche) Kirche mit ihren Seelsorgern, spirituellen Begleitern, Theologen, Mystiker usw. mit all ihren Unterschieden und Widersprüchen und auf der anderen Seite steht die Familientherapie bzw. Systemische Therapie mit ihren Repräsentanten, unterschiedlichen Entwicklungen, Sichtweisen, Methoden und Theorien. Nun ja, ich bin halt ein Kind zweier Eltern. Ich sehe das als Chance. Durch die Verbindung oder besser Zusammensicht unterschiedlicher Ansätze, Professionen, Therapieformen entstehen neue Sichtweisen, die möglicherweise erhellend für das Arbeiten sind und hilfreich für die Klienten und natürlich auch für die Therapeuten oder Seelsorger. Soweit die Praxis. Wie sieht es mit der Theorie bzw. mit meiner Theologie aus? Für mich ist Theologie immer gebunden an meine gesellschaftliche, politische und persönliche Praxis. Aus meiner Sicht gilt das für jeden Menschen, der sich an religiöser Kommunikation beteiligt. Offenbarung Gottes kann für mich ausschließlich in menschlichen Kategorien geschehen, ist immer immanent. Transzendenz kann sich nicht selber mitteilen ohne ihre Transzendenz zu verlieren. Jede Theologie bleibt gebunden an den Vertreter dieser Theologie. Sie ist Ergebnis seines Reflektierens auf Transzendenz. Doppelte Kontingenz erscheint mir hier hilfreich. Auch das Christentum ist ein System, deren Grundvollzüge Kommunikationen sind. Dadurch wird nicht Gott geleugnet, sondern die Begrenztheit der Kommunikation über ihn wird deutlich. Zumindest von meiner Seite aus unterliegt auch die Kommunikation mit Gott, wenn sie stattfindet, der doppelten Kontingenz. Es gibt keine Sicherheit. Es gibt keine ewige absolute Wahrheit. Und doch suchen wir nach Theorien, die unsere Praxis stützt. In einem dialektischen Prozess werden sich Praxis und Theorie als hilfreich erweisen oder sie werden verändert. In der seelsorglichen und therapeutischen Beziehung zählen nicht Intoleranz oder Dogmatismus, sondern Offenheit, Veränderungsbereitschaft, Respekt, Würde aber auch Humor und Herzlichkeit.
Literatur
Camus, A. (1968). Der Fall. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag.
Casalis, G. (1980). Die richtigen Ideen fallen nicht vom Himmel. Grundlagen einer induktiven Theologie. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
Merklein, H. (1994). Die Jesusgeschichte – synoptisch gelesen = Helmut Merklein und Erich Zenger (Hrsg.) Stuttgarter Bibelstudien 156. Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk.
Morgenthaler, C. (2005). Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis. Stuttgart: W. Kohlhammer.
Jaspers, K. (1958). Von der Wahrheit. München: R. Piper & Co. Verlag.
Jaspers, K. (1963). Der philosophische Glaube. R. Piper & Co. Verlag.
Jaspers, K. (1974). Existenzphilosophie. Berlin: Walter de Gruyter & Co.
Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie = suhrkamp taschenbuch wissenschaft 666. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Luhmann, N. (2002). Die Religion der Gesellschaft = suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1581. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Melville, H. (1964). Moby Dick oder Der Wal. München: Winkler Verlag.
Peukert, H. (1978). Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentage Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung = suhrkamp taschenbuch wissenschaft 231. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Rahner, K. (1971). Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie = Herderbücherei Band 403. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.
Rahner, K. (1989). Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.
Zusammenfassung
Der Artikel sucht einen persönlichen Brückenschlag zwischen Seelsorge und Systemischer Therapie und deren theoretischem Überbau in Theologie und Konstruktivismus. Ergebnis ist, dass sich auf der einen Seite die Praxis für den Autor aus zwei Quellen speist wie bei einem Kind zweier Eltern. Auf der anderen Seite lassen sich die Theorieprobleme nur in einem dialektischen Prozess mit der Praxis lösen.
Summary
The article is looking for a personal bridge between pastoral care and systemic therapy and its theoretical superstructure in theology and constructivism. Result is that fed on one side of the practice for the author of two sources as a child of two parents. On the other hand, the theory problems can be solved only in a dialectical process with practice.
Willi Oberheiden, Jahrgang 1958, verheiratet, fünf Kinder, Diplom-Theologe, Systemischer Therapeut und Familientherapeut (IFW/SG), Heilpraktiker (Psychotherapie), Pastoralreferent in der Gefängnis- und der Gemeindeseelsorge i.R. und in eigener Praxis.
web: www.lebensweltwerkstatt.de
E-Mail: w.oberheiden@t-online.de
Erschienen in: Systema, Heft 1, 2012, 26. Jahrgang, 49-58. = Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück, Juli 7/2012, 206 – 213.