vierzundzwanzig
Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters.
Brief an die Philipper 2,6–11
Heiligabend Menschwerdung
Heute ist der Heilige Abend. Was soll heilig sein in einem Knast? Was soll heilig sein inmitten von Verbrechern, inmitten von Schließern? Ich bin einsamer als je zuvor. Meine Frau, meine Kinder, meine Familie, meine Freunde feiern, aber nicht mit mir. Und wenn ich niemanden habe? Dann ist es genauso schlimm. Am Fest der Heiligen Familie fühle ich mich einsam. Ich habe niemanden, mit dem ich zusammen sein kann. Vielleicht war da auch nie jemand. Vielleicht habe ich durch den Knast selbst den Letzten, der zu mir stand, verloren. Und hier im Knast ist nur Verschluss. Vielleicht ein Geschenk von der Kirche. Vielleicht ein Gottesdienst. Wird er mir gut tun, oder wird er mich runterziehen?
Und doch ist heute der Heilige Abend. Vielleicht macht er etwas heil bei mir? Da gab es doch eine Zeit oder einen Moment, wo meine kleine Welt noch heil war, nicht zerbrochen wie jetzt. Eine Kerze soll brennen in mir für diese Erinnerung. Ja, das gibt es, das muss es geben: eine heile Welt für mich, in der es für mich gut wird, gut ist.
Ein Kind wird geboren in widrigen Umständen. Es wird geboren in einem Stall, angefeindet von Anfang an, verfolgt und schon bald auf der Flucht. Geboren, um zu sterben. Aber dieses Kind ist das Heil der Welt. Es wir mich erlösen. Alle wird es erlösen. Darum ist diese Nacht heilig, weil es ohne diese Nacht keine Rettung für mich gäbe. Wir wären verloren in der Trostlosigkeit dieser Welt.
Gott wird Mensch, damit ich Mensch sein kann auch in einem unmenschlichen System.
Heute bin ich Mensch, auch wenn alles dagegen zu sprechen scheint.
ein kind
in windeln
in einer krippe
ein zeichen
dass eine frau und ein mann
miteinander geschlafen haben
dass zwei sich lieben oder geliebt haben
oder auch nicht
dass das leben weitergeht
ein zeichen
der freude
der liebe
der hoffnung
der zukunft
ein zeichen
einer neuen zeit
einer neuen welt
einer neuen zukunft
ein zeichen
für menschen
die es fassen können
ein zeichen zum anfassen
nimm mich
nimm mich auf den arm
nimm mich in den arm
damit du fühlst
damit du leben fühlst
Aus: Willi Oberheiden, Türen öffnen sich. Ein Adventsbegleiter für Gefangene, 2016, vierundzwanzig.