"Die Vergangenheit ist nie vorbei. Sie ist in uns, sie macht uns zu dem, was wir sind."
Sigmund Freud
Gymnicher Knippplätzchen
In der Kirmeszeit gab es in Gymnich in der Bäckerei Segschneider, genannt Eiermann, die köstlichen Knippplätzchen. Ich bin kein Bäcker, aber soweit ich mich erinnere, waren die Plätzchen etwa handgroß, weniger als ein Zentimeter dick und oval. Es war wohl ein Mürbeteig mit viel Butter vielleicht mit Mandel und oben drauf viel Zucker. Und nur einmal im Jahr gab es diese Kekse. Wenn ich glück hatte kauften meine Eltern sie zweimal, so dass ich noch ein zweites Plätzchen bekamm. Irgendwann machte die Bäckerei Segschneider noch Nachfolger zu. Mit ihr verschwanden für mich die Knippplätzchen und das Rezept. Ich habe im Internet recherchiert, aber leider nichts gefunden. Alles lag vor dieser Zeit. Was geblieben ist, ist der Geschmack, das Bild, die fettigen Hände und die Zeit.
Das ist hier kein Backblog. Und doch ist das Konkrete für mich wichtig. Es ist die Erinnerung. Und die Erinnerung ist konkret. Ich will nicht behaupten, dass meine Erinnerung alles so abgebildet hat wie es war, aber sie hat es für mich erhalten, so wie es für mich war. Und in das Plätzchen eingebacken sind die Erinnerung an die Backstube, das Hinterzimmer zum Geschäft, wo der Bäcker seinen Bäckerschlaf hielt. Es ist mein Opa, der nach seiner Arbeit als Steiger in der Bäckerei half, weil der alte Herr Segschneider sein Freund war. Heute noch würde ich den Weg finden von meinem damaligen Zuhause zur Bäckerei.
Erinnerung machen mich aus, sind etwas wie ein Sakrament, ein spirituelles Erleben, ein inneres Fotoalbum. Als ich meiner Frau von den gymnicher Knippplätzchen erzählte, wurde meine Kindheit wieder wach. Sie wurde wach in einem guten Sinne. Es waren die Gedanken, die Sinneswahrnehmungen, die Gefühle. Erinnerungen können eine wichtige Ressource sein. Sie machen mich stark, weil ich in Verbindung stehe zu meiner Vergangenheit, zu den Menschen, zu meiner Familie, zu dem Erlebten. Stark machen mich die guten Gefühle und Gedanken, die damit verbunden sind. Und es ist so als wenn es jetzt wäre. So deuten meine Erinnerungen über etwas Konkretes hinaus. Sie sind zeichenhaft oder sakramental, weil durch diese Erinnerung die Zeit wieder wach wird und mich stärkt. Und es ist ein Erleben, das über das Profane des Erinnerten hinausgeht. Würde ich jetzt mit jemandem reden, der diese Erinnerungen an die Knippplätzchen mit mir teilt, würde möglicherweise etwas gemeinsames entstehen, was über das Teil der Erinnerungen hinausgeht. Es könnte ein gutes Gefühl der Verbundenheit entstehen, selbst wenn der Inhalt der Erinnerungen nicht identisch ist.
Das ist eine gute Erinnerung. Aber was ist mit belastenden Erinnerungen? Ich glaube, sie werden zur Ressource auf eine andere Art und Weise. Vielleicht müssen sie durch einen Filter der Bearbeitung, Aufarbeitung oder Einordnung gehen, um zu Ressource zu werden. Schwere Erinnerungen können zu wichtigen Erinnerungen werden, die gut und wertvoll für mich sind. Auch sie verbinden mit meiner Vergangenheit, ohne die ich nicht der wäre, der ich bin. Sie verbinden mich mit meiner Familie, aber auch mit den Verletzungen, den Wunden, geheilt oder auch nicht. Ich kann meiner Erinnerung nicht entgehen. Die Erinnerungen kommen ob passend oder nicht. Wenn sie mich nicht übermächtigen sollen, muss ich ihnen ins Gesicht schauen. Vielleicht am Anfang geschützt oder mit Abstand und später machtvoll, um ihre vielleicht geheime Macht zu brechen. Dann sind sie ein Teil von mir und nicht ich ein Teil von ihnen. Vielleicht kann man es so sagen.
Manches habe ich vergessen. Vielleicht ist das gut so, vielleicht ist das schade. Ich weiß es nicht und kann es nicht ändern. Doch was an guter Erinnerung bleibt möchte ich bewahren, selbst wenn es sich verändert.